Gish

Nach dem Aufstieg kommt der Fall. Oder, wie man in England sagen würde: »What goes up, must come down.« Wir gravitationsgeplagten Erdbewohner wissen: Dies sind kluge Sätze, in denen mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit steckt. Selbst in der virtuellen Welt der Computerspiele kann man sich den physikalischen Gesetzen der Gravitation nur selten entziehen. In Shootern plumpsen blutende Körperteile lustig platschend zu Boden, in Flugsimulationen fällt unaufmerksamen Piloten das Flugzeug vom Himmel und in Flipperspielen huscht die Kugel, von der Schwerkraft angezogen, an den beiden Paddles vorbei. In kaum einem anderen Spielgenre spielt die Gravitation jedoch eine so eklatant wichtige Rolle wie in Jump ’n‘ Runs. Und dies, seit der erste Titel dieses Genres, »Pipe Jump«, auf dem Markt auftauchte. Da mutet es schon etwas merkwürdig an, dass Chronic Logic als herausragendstes Feature ihres neusten Titels »Gish« eben die Physik anpreisen – denn »Gish« ist ein Jump ’n‘ Run. Grund genug, sich das Spiel einmal näher anzuschauen.

Chronic Logic ist auf dem Sharewaremarkt kein unbeschriebenes Blatt. Ihr bekanntestes Produkt dürfte das auch für Mac OS X erhältliche »Bridge Construction Kit« sein – hier spielt der Kampf gegen die Gravitation sozusagen die Hauptrolle. Auch in »Tryptich«, einem Tetris-Klon, der in Versionen für Mac OS 9 und Mac OS X erhältlich ist, fällt der Physik eine wichtige Rolle zu. Und nun »Gish«.

Das Spiel bietet neben dem Single-Player-Modus – der sich wiederum in den 34 Level umfassenden Story-Modus und den 20 Level umfassenden Collection-Modus aufzweigt – noch sechs Multiplayer-Modi mit insgesamt 28 verschiedenen Level. Bei zum Beispiel einem Football- oder Sumoring-Wettkampf dürfen sich zwei Spieler aneinander messen: Wer hat seine Spielfigur besser im Griff? Wer hat fiesere Tricks drauf? Für genügend Abwechslung ist in dieser Hinsicht also gesorgt – auch wenn die Multiplayer-Modi nicht online spielbar sind. Aber es hat ja auch durchaus seinen Reiz, den Gegner direkt neben sich sitzen zu haben. Immerhin kann man sich so unmittelbar für eine Niederlage revanchieren…

»Gish« ist nach dem Helden des Spiels benannt, und der ist mehr als nur ungewöhnlich: Gish ist ein lebendiger Teerball mit zwei ständig grimmig dreinschauenden Augen und einem mit weißen Zähnen bewehrtem Mund. Gish hat eine – selbstverständlich rein platonische – Beziehung mit Brea. Als die beiden eines sonnigen Sonntags einen ausgedehnten Spaziergang machen, steigt aus einem Kanalloch plötzlich und völlig unverhofft eine bizarr aussehende Kreatur empor. Diese schnappt sich Gishs nunmehr kreischende, platonische Freundin und entschwindet mit ihr in den Untergrund. Nun, auch platonische Freundinnen haben ein Recht darauf, gerettet zu werden. Und so zögert Gish nicht lange und flutscht hinab in den finsteren Schlund.

Ab hier übernehmt ihr das Kommando über den Helden. Die Steuerung ist recht schnell erlernt: Mit den entsprechenden Cursor-Tasten bewegt ihr Gish nach links oder rechts. Mit der Runter-Taste überredet ihr ihn, sich zu ducken – Gish wird in diesem Fall zu einem Fladen. Gesprungen wird mit Space, drückt ihr »s«, umgibt sich Gish mit einer Schleimschicht und kann so besser durch enge Gänge schlüpfen. Ein Druck auf »d« veranlasst Gish, seine Form zu verhärten – so könnt ihr zum Beispiel Mauern einrennen oder Gegner zerquetschen. Taste »a« löst Gishs wichtigste Fähigkeit aus: Bei gedrückter Taste wachsen feine, klebrige Härchen aus seiner Haut. Durch diese Härchen kann er sich beispielsweise an senkrechten Mauern auf und abwärts bewegen, unter die Decke hängen oder aber Gegenstände greifen und transportieren.

In den ersten Levels dürft ihr euch zunächst ausgiebig damit beschäftigen, den Helden des Spiels und die Möglichkeiten seiner Gestalt kennen zu lernen. Ihr stellt bald fest: Ein halb flüssiger Körper steuert sich ein wenig anders als einer mit zwei Beinen. Interessante Dinge müssen gelernt werden: Wie springe ich, wie greife ich einen Gegenstand, wie werfe ich ihn zielgenau, wie transportiere ich ihn, wie klettere ich an einer Wand hoch, wie hangele ich mich von einer Plattform zur anderen und so weiter und so weiter. Die Physik des Spiels ist wirklich sagenhaft. Oftmals habe ich mich dabei ertappt, wie ich – anstatt einen Level zu meistern – lieber mit Gish herumexperimentiert habe. Sei es, um einen Gegenstand besonders weit oder zielgenau zu werfen oder aber Gish in genau diese eine, unerreichbar scheinende Ecke unter der Decke zu bewegen. Dafür gibt es übrigens eigens auch einen Spielplatz.

Das Geschehen wird hierbei komplett in zwei Dimensionen dargestellt. Eine OpenGL-kompatible Grafikkarte ist dennoch Pflicht – den hübschen Lichteffekten sei Dank. Grafische Highlights sind ohne Zweifel die extrem abgefahren aussehenden und im Comicstil gezeichneten Gegner: Zusammengeflickte alte Stoffpuppen, beißwütige Kopffüßler und schlagkräftige Fleischklumpen gehören zum Ensemble. Ansonsten ist »Gish« grafisch ein bisschen zu schlicht geraten. Comic-Stil hin und her, ich vermisse Details, besonders in der Umgebung. Es wirkt alles recht monoton und grob. Farblich bewegt sich das Spiel permanent in einem braungrün-dreckblauen bis schwarzen Millieu. Angesichts des Themas zwar nachvollziehbar, auf Dauer jedoch ermüdend.

Musikalisch ist dafür etwas mehr drin. Fans von Gitarren dürfen sich freuen: Es darf gerockt werden – und das durchaus facettenreich. Das Angebot reicht von orientalisch angehauchten Klängen hin zu etwas gruftigeren Variationen – immer laut, immer hart. Lediglich im ersten Level traut man sich noch nicht so recht – vielleicht will man niemanden verschrecken?

In Anbetracht des enormen Unterhaltungswerts der Physik rund um den Helden und seiner Möglichkeiten fällt fast – aber nur fast – nicht auf, dass das Leveldesign in weiten Teilen recht konservativ geraten ist. Ab und zu mal ein Schalterrätsel, hier und da ein paar Gegner oder eine Schwimmpassage – Dinge, die man auch aus anderen Spielen kennt und für deren Lösung man keinen halbflüssigen Helden und eine fortschrittliche Physik-Engine benötigt. Am Besten ist »Gish« dann, wenn die Möglichkeiten, die die Physik-Engine bietet, ausgeschöpft werden. Bei der Lorenfahrt zum Beispiel, die bei falscher Positionierung des Passagiers völlig außer Kontrolle geraten kann. Oder bei der Seilbahnfahrt in die Hölle. Das sind echte Highlights, von dererlei Art ich gerne mehr gesehen hätte.

Ein Wort noch zu den Systemanforderungen: Chronic Logic ist hierbei erstaunlich vorsichtig und gibt ein System mit einem mit 1 Ghz getaktetem Prozessor als Minimum an. Das Spiel läuft jedoch auch auf Maschinen, die deutlich darunter liegen. Allerdings bricht dann die Framerate des öfteren ins Bodenlose ein – auch dann, wenn man auf so ziemlich jeden Eye-Candy und die Musik verzichtet. Die Demo sollte jedem Interessierten einen guten Eindruck davon vermitteln, ob die Performance des Spiels auf der eigenen Maschine noch ausreichend ist.

UPDATE, 02.08.2005:

Manchmal sagen sich Fuchs und Hase »Gute Nacht«. Und manchmal schafft es eine Shareware, kommerzielle Spielepublisher dermaßen zu beeindrucken, dass diese völlig heiß darauf sind, das Stückchen Software auf CD gepresst an den Kunden zu bringen. So geschehen mit »Gish«. Bereits letztes Jahr haben wir unser Review um das Spiel mit dem grimmigen Teerball online gestellt. Jetzt haben uns Application Systems Heidelberg zusammen mit Halycon Media nicht nur eine auf CD gepresste, sondern auch vollständig lokalisierte Version des Spiels beschert. Ist denn schon Weihnachten?

Nur fast. Man kann offenbar nicht alles haben. Zum Beispiel steht noch in den Sternen, ob Halycon Media oder Application Systems Heidelberg das Spiel mit gleicher Liebe pflegen, wie Chronic Logic das mit der englischen Originalversion bereits tun. Die lokalisierte Fassung des Games basiert auf Version 1.4 des internationalen, englischsprachigen Spiels. Dieses ist mittlerweile in Version 1.43 zu haben. Der Versuch, das englischsprachige Upgrade auf das deutsche Spiel anzuwenden wird bestraft – das Spiel muss dann komplett neu von CD installiert werden.

Das ist jedoch sehr einfach gelöst: Der Programmordner wird einfach per Drag & Drop von der CD an eine beliebige Position auf der Festplatte kopiert. Überhaupt besticht die CD-Version des Spiels durch hübsche Äußerlichkeiten: Die Verpackung ist wirklich sehr schön, die Disc ist es ebenso und auch das Handbuch kann sich sehen lassen.

Als familienfreundlichem Spiel steht »Gish« die Lokalisierung natürlich gut zu Gesicht. Nun sollten auch jüngere Spieler keine Probleme mehr haben, sich durch die Konfigurations- und Spiele-Menüs zu navigieren oder den Editor zu bedienen, und auch die Story ist für nicht englischsprechende Menschen nun einfacher zu verstehen – wenngleich gesagt werden muss, dass diese auch zuvor nicht viel verpasst hätten. Interessanter ist da schon, dass »Gish« nun auch für Leute ohne Kreditkarte zu haben ist – und zwar beim Händler um die Ecke, denn die CD bringt sowohl eine Mac- als auch eine Windows- und Linuxversion des Spiels mit.

Die deutsche Fassung unterscheidet sich ein wenig von der Version, auf der unser bisheriger Test basiert (1.2). Per Default ist nun ein Turbo-Modus aktiviert, der die Spielgeschwindigkeit beschleunigt. Neu sind außerdem ein paar Mehrspieler-Level, die Tatsache, dass in einigen von diesen nun bis zu vier Spieler gleichzeitig gegeneinander antreten können, ein Level-Editor und einige Extra-Level. Allerdings wurden diese Features durch mehrere kostenlose Patches auch der englischen Version des Spiels hinzugefügt. Also bietet die deutsche Version softwareseitig außer Deutsch nichts, was Besitzer der internationalen Version nicht schon hätten. Doch halt, da wäre der ausgesprochen ärgerliche Fehler, der verhindert, dass sich das Spiel Spielstände merkt. Bei jedem Neustart des Programms sind alle Speicherslots wieder jungfäulich leer. Dieser Fehler lässt sich zwar recht einfach beheben, indem man mit dem Finder die Rechte am frisch installierten Spieleordner von »Nur Lesen« auf »Lesen und Schreiben« setzt. Da muss man aber auch erstmal drauf kommen…

Alles in Allem ist die lokalisierte Version für alle Jump ’n‘ Run-Fans die kein Englisch sprechen oder keine Kreditkarte besitzen ein sehr interessantes Angebot – obwohl sie ein paar Schönheitsfehler mitbringt. An der Qualität des Spiels ändert das aber nichts. Und auch nicht an unserer Wertung.

Fazit:

»Gish« beinhaltet ein großes Versprechen, das jedoch nur teilweise eingelöst wird. Es bleibt der Eindruck, als hätten die Entwickler selbst nur ansatzweise begriffen, welche neuen Möglichkeiten eine derart realistisch anmutende Physik bei der Levelgestaltung eines Jump ’n‘ Runs bietet. Zwar ist »Gish« niemals langweilig, dennoch beschleicht einen permanent das Gefühl, dass man noch mehr aus dem Spiel hätte herausholen können. Nichtsdestotrotz ist »Gish« das Beste 2D-Jump ’n‘ Run auf dem Mac seit »Jazz Jackrabbit 2«. Für Fans des Genres ist das Spiel unbedingt empfehlenswert.

Christian Schramm

Verfügbarkeit

Zu haben ist das Produkt im macinplay-Shop.

Bilder (klicken für mehr)

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