Trainingslager eines Mörders
Erfurt und die Folgen – Was bringt das Verbot von Gewaltspielen?
Der komplett schwarz gekleidete, massige Mann mit der Sturmhaube über dem Gesicht trägt eine 9-mm-Glock in der Hand und hat eine Schrotflinte quer über den Rücken geschnallt. Bei sich trägt er jede Menge Munition. So ausgerüstet betritt er den menschenleeren Gang des Gebäudes. Links und rechts des Ganges befinden sich Türen. Hinter seinem Rücken liegt ein Treppenhaus, in der Entfernung direkt vor ihm noch einmal ein weiteres. Er schreitet durch den Gang, öffnet eine Tür, sieht zwei Gegner und drückt ab. Die Ziele kippen um. Die ersten Frags des Tages.
Klingt wie ein typischer Shooter, über den ich hier berichten will. Doch am Freitag, den 26. April 2002, startet Robert um elf Uhr morgens seinen eigenen, ganz privaten First Person Shooter. Nicht in einem Computerspiel, sondern im echten Leben, im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Es ist kein Spiel, was Robert hier betreibt. Es ist tödlich. Und es sind keine Frags, die Robert hier für sich bucht, sondern Tote. Menschen. Tote, die einen Namen haben: Anneliese Schwertner und Rosemarie Hajna. Es sind nur zwei von 16 Opfern, bevor Robert schließlich seine Glock gegen sich selber richtet. Robert ist 19. Er stirbt viel zu früh.
Was in Robert vorging, als er das Blutbad plante und ausführte, wird ewig rätselhaft bleiben. Experten streiten sich schon seit langem über die Motive der so genannten Amokläufer, die anscheinend grund- und wahllos Menschen töten. In aller Regel kann man einen Amokläufer auch nicht mehr dazu befragen, denn üblicherweise stirbt dieser ebenfalls durch die eigene Hand. Psychologen sprechen bei diesem Phänomen über einen „erweiterten Selbstmord“. Übrigens war dies kein echter Amoklauf, denn Amokläufe sind eine Spontanhandlung – was Robert hier ausführte, war kaltblütiger, vorsätzlicher Mord.
Sofort nach der Bluttat von Erfurt wurden die Lebensumstände von Robert untersucht. Heraus kam, was zu erwarten war: Robert war ein begeisterter Horrorvideo-Fan, Heavy-Metal-Freund und Computerspieler. „Counter-Strike“ sei sein Lieblingsspiel gewesen, in seinem Zimmer hing ein „Diablo 2„-Poster. Damit ist so ziemlich jedes gängige Klischee bedient worden, das es für gewalttätige Jugendliche gibt – schade nur, dass sein Elternhaus nicht auch noch zerrüttet war und er in seiner Kindheit nicht vom Vater sexuell missbraucht worden ist, denn dann hätten wir den Lieblingstäter der Boulevardpresse. So wurde also lediglich betont, dass Robert „auffällig unauffällig“ gewesen sei, womit ein anderes Klischee bedient wird, das in derartigen Fällen gerne zum Einsatz kommt. Der nette, stille Junge von nebenan – der kann doch keiner Fliege was zu Leide tun! Und ob er konnte.
Ich kann mich mangels Kompetenz nicht mit dem psychologischen Profil dieses Jungen auseinandersetzen. Auch gar nicht mit der Tat an sich selbst. Das überlasse ich den Freizeitpsychologen der BILD-Zeitung und den wahlkämpfenden Parteien, die in diesem September ihre Lobbys hinter sich bringen müssen. Doch es stellt sich eine Frage, und zwar sehr drängend: Hat die Leidenschaft fast aller Amokläufer der jüngeren Vergangenheit für Computerspiele, bei denen Gewalt im zentralen Blickpunkt steht, etwas mit ihren Taten zu tun? Benutzen diese Mörder Spiele wie „Unreal Tournament„, „Quake III Arena“ oder das (für den Macintosh nicht verfügbare) „Counter-Strike“ gar als Trainingslager? Ich behaupte nein. Erstens ist es derzeit nicht möglich, eine Handfeuerwaffe per Computer realitätsnah zu simulieren, denn eine Glock wiegt nun einmal erheblich mehr als eine Maus, und in der Realität wird man durch permanentes Laufen müde. Bislang sind die Physikengines dieser Spiele nicht in der Lage, das Heben und Senken einer Waffe beim Atmen darzustellen – Waffen zittern bestenfalls herum, um „außer Atem“ zu symbolisieren. Wer beim Militär war und mal ein 6-Kilo-Gewehr stehend freihändig auf ein Ziel gerichtet hat und dann gelegentlich in UT die Sniper-Waffe bedient, der weiß, was ich meine. Zweitens glaube ich nicht, dass die Gewalt, die in derartigen Spielen gezeigt wird, überhaupt irgendeinen psychischen Effekt auf einen mental stabilen Menschen hat, ganz egal, ob er 14, 19 oder 50 Jahre alt ist. Ein mental stabiler Mensch wendet sich entweder ab mit Grausen oder spielt diese Art von Spiele, weil sie ihm schlicht und ergreifend Spaß machen.
Der Computer ist eines von vielen Medien, das Gewalt in der Lage ist, darzustellen. Doch wenn ich ein Spiel spiele, dann weiß ich, dass ich hier keine Probleme löse, sondern ein wie auch immer realistisches scheinendes Spiel spiele. Wenn mir dagegen die seriösen Nachrichten und die Zeitungen die israelische Zerstörung arabischer Wohngebiete und die Leiche eines zweijährigen Palästinensermädchens in allen Einzelheiten zeigen, dann weiß ich, dass da jemand Probleme in der Realität löst, sich im Irrtum befindet und von unserer westlichen Welt dabei entgegen jeglicher Vernunft gedeckt wird. Nein, ich bin bestimmt kein Antisemit – doch dies ist ein besonders krasses Beispiel für unsere eigene Feigheit, mal das Maul aufzumachen und zu sagen, dass mit unserer Gesellschaft und unserer Art zu Leben, unserem „Way of Life“, etwas nicht stimmt.
Horrorvideos und Computerspiele dienen als hervorragender Sündenbock: „Aha, die Amokläufer von Littleton haben ‚Quake III Arena‘ gespielt, ist ja klar, dass das dazu kommen musste. Und dieser Robert, der hat ‚Counter-Strike‘ gespielt. Jaja. Alles klar.“ – Nein, damit machen wir es uns zu einfach. Natürlich ist die Gewaltdarstellung in vielen Spielen ehrlich betrachtet ziemlich ätzend und ausgesprochen fragwürdig. Muss es wirklich sein, dass ich mit wüst gestylten Autos Omis überfahren soll, um Punkte zu kriegen („Carmageddon“)? Muss es wirklich sein, dass ich Kinder exekutieren soll, damit ich meinen Bonus absahne („Commando Lybia“)? Muss es wirklich sein, dass ich Gegenspieler wahrhaftig zerfleische („Quake III Arena“)? Wenn man ehrlich ist: Nein, das muss nicht sein. Shooter etwa funktionieren auch ohne meterhohe Blutfontänen hervorragend, und sie machen noch immer Spaß, wenn die Frags nicht in alle Einzelteile zerrissen werden. Doch das ist eine Frage persönlichen Geschmacks. Mir persönlich gefällt „Tainted Love“ von den Elektropoppern Softcell auch besser als die Coverversion vom Schockrocker Marilyn Manson, und anders herum finde ich die Ab-18-Version von „Terminator 1“ auch besser als die verstümmelte Ab-16-Version.
Die Forderung nach einem Verbot aller Gewaltspiele, wie sie die Politik direkt nach dem Erfurter Schulmassaker gestellt hat, dagegen ist müßig – Forderungen dieser Art sind populistisch und offenbarer Unsinn. Mit Verlaub: Ohne Gewaltspiele würden wir, die Menschen, wohl noch in Höhlen wohnen, stets auf der Flucht vor dem Streichelzoo in den Büschen der Wälder. Gewalt der spielerischen Art ist Bestandteil der Menschwerdungsgeschichte. Spielerische Gewalt im Kindesalter bereitet die jungen Menschen auf die sehr reale Gewalt im Erwachsenenleben vor. Dass wir nun seit ein paar Jahrzehnten in friedlicher Eintracht mit unseren Nachbarn leben ist toll, daran gibt es nichts zu ruckeln, aber sehen wir uns mal die Menschheitsgeschichte an, seit wir Werkzeuge herstellen und uns Mensch nennen dürfen.
Von grauer Vorzeit an drehte sich das Leben ausschließlich um zwei Dinge: Überleben und Arterhaltung. Die Art zu erhalten ist schwierig, wenn man insgesamt nicht sonderlich alt werden kann und als Dreißigjähriger schon zu den Greisen zählt, wie etwa in der Steinzeit. Entsprechend früh war man als Kind bei der Jagd dabei (respektive natürlich beim Wurzel- und Beerensammeln, schwanger sein und Kinderkriegen. Liebe Leserinnen, nehmt es mir nicht übel, wenn ich hier die weibliche Rolle etwas unterbewertet erscheinen lasse – Gewalt geht klassischerweise von Männern aus. Und nun ratet mal, wie hoch der Anteil weiblicher Shooter-Fans ist). Um die Art zu erhalten, musst du überleben, und überleben kannst du nur, wenn du dich in feindlicher Umgebung durchzusetzen weißt: mit Gewalt. Gewalt gegen Mammuts, Säbelzahntiger, gegnerische Stämme. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wir werden allerdings älter, die Arterhaltung und das Überleben sind mehr oder weniger problemlos möglich, man lebt nicht mehr in einer feindlichen Umgebung. Aber das interessiert unsere Veranlagung nun einmal herzlich wenig.
Gewaltspiele machen Spaß: Spaß, wie wir ihn alle empfunden haben, als wir als Kinder Räuber und Gendarm oder Cowboy und Indianer gespielt und mit Erbsenpistolen aufeinander geschossen haben. Als wir unseren Papa an den Kirschbaum gefesselt haben und ihm dann die nackten Füße kitzelten. Was bitteschön ist denn an „Counter-Strike“ außer dem Einstiegsalter anders als an Räuber und Gendarm? Gut, bei letzterem spritzt nicht literweise Blut herum, aber wer von uns hat denn noch niemals „Peng-peng, du bist tot“ gerufen? Sind wir nun alle potenzielle Mörder?
Ja, das sind wir. Wir alle sind potenzielle Mörder, unabhängig davon, wie man zum Militär stehen mag. Der Mensch – und insbesondere der männliche Mensch – ist von Natur aus latent gewaltbereit. Und genau da liegt das eigentliche Problem, denn einige Menschen sind nicht in der Lage, sich zu kontrollieren, so etwa Choleriker, die ihre Selbstbeherrschung komplett verlieren können, und Psychopathen, denen aus pathologischer Sicht die Fähigkeit zur Empathie fehlt. Auch ganz normale Menschen lassen unter bestimmten Bedingungen alle angeeigneten und anerzogenen Verhaltensmaßregeln fahren; sie „drehen ab“ und werden gewalttätig. Hilfreich zum Senken der Hemmschwelle ist Drogenkonsum jeder Art, aber auch zum Beispiel gruppendynamisches Agieren. Man stelle sich nur einmal einen Trupp alkoholisierter Fußballfans vor. Das sind ansonsten ganz normale Leute, die aber unter diesen Voraussetzungen plötzlich aggressiv werden können (und sich hinterher oft ganz schön für ihr peinliches Verhalten schämen).
Nun war Robert, als er durchs Gutenberg-Gymnasium zog und 16 Menschen tötete, weder alkoholisiert noch in einer Form von Gruppenzwang. Im Gegenteil, er hat seine Tat vorbereitet und geplant. Vermutlich sah er schlicht und ergreifend keine Hoffnung mehr. Er kam aus einer leistungsorientierten Familie, war der Schule verwiesen worden und stand nun – obwohl er die 11. Klasse bestanden hatte – vor dem Nichts: In Niedersachsen hatte ich mit Bestehen der 10. Klasse am Gymnasium den erweiterten Sek-1-Abschluss, Realschule also, in der Tasche. Und dann nach der 12. Klasse (fast) automatisch die Fachhochschulreife, mit dem Bestehen des Abiturs in der 13. Klasse dann auch die Allgemeine Hochschulreife. In Thüringen hat man dagegen nichts, gar nichts (!), wenn man durchs Abi rasselt. Nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Und offenbar war Robert nicht in der Lage, diese persönliche Niederlage durch Erfolgserlebnisse anderer Art zu kompensieren – dazu mögen noch andere Dinge gekommen sein, die sein persönliches Fass zum Überlauf brachten.
Labile Psyche und Waffen passen nicht zusammen, und das hat nichts mit dem Alter des Jungen zu tun. Robert war 19, als er durchknallte, andere sind 50 oder 70. Einige, wie Robert, nutzen Schusswaffen als Tatwerkzeug, andere das Auto oder auch lediglich die bloßen Fäuste. Es gibt Leute, die niemals durchknallen, obwohl sie massenhaft Computergewalt und Videogewalt ausgesetzt sind. Andere haben noch niemals in ihrem Leben überhaupt ein Computerspiel gespielt und töten dennoch sinnlos. Immerhin stammt das Wort „Amok“ aus dem Malayischen – holländische Seefahrer des 18. Jahrhunderts brachten das Wort mit nach Europa, nachdem sie Amokläufer hatten sehen können. Ein Wort ähnlicher Bedeutung – „Himmelfahrtskommando“ – gibt es ebenfalls schon länger als Computerspiele oder Fernsehen. Es ist schwer zu sagen, ob Gewaltdarstellung in Spielen tatsächlich die Bereitschaft zur Gewalt stärkt oder nicht. Ausschließen mag ich es nicht – ich würde auch meinem eigenen Kind den Zugang zu derartigen Medien erschweren, aus dem reinem Gefühl heraus, dass „so etwas was für Erwachsene ist“. Als Grund für ein Schulmassaker kann Gewalt im Spiel jedenfalls nicht herhalten. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt befinden sich etwa 500.000 Counter-Strike-Spieler online, ungezählte Tausend mehr spielen auf LAN-Partys. Wie viele Amokläufer aber gibt es?
Einen möglichen Zusammenhang zwischen Gewaltspielen und Gewalttaten darf man nicht bagatellisieren, aber man sollte auch nicht zulassen, dass ein an sich friedlicher Zeitvertreib, bei dem explizit niemand zu Schaden kommt, pauschal als schlecht, falsch und böse verunglimpft wird.
Gesellschaftliche Normen und Gesetze bemühen sich, die Gewaltbereitschaft der Menschen mit Regeln zu belegen und damit zu fesseln. Man kann nicht mehr einfach rausgehen und jemanden umbringen, der einem nicht passt. Das göttliche Gebot „Du sollst nicht töten“ dokumentiert das durch das Alte Testament auf eindringliche Weise. Was tun aber, wenn trotz aller Gebote und Verbote, trotz aller Gesetze und Vorschriften sich der uralte Instinkt des Menschen, jemandem Gewalt anzutun, von selbst entfesselt? Ich bezweifle, dass dieser Instinkt durch Verbote von Medien zu unterdrücken ist. Jack the Ripper hat niemals „Rambo“ gesehen und auch niemals „Quake“ gespielt.